Unterhaltung/Kultur —   Birk Grüling / Publiziert am Dienstag, 12. Juli 2022

Videospiele im Alter: Warum immer mehr Senioren spielen


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Graues Haar unter den dicken Kopfhörern, der Blick ist fest auf den Bildschirm gerichtet. Bei den „Silver Snipers“ herrscht konzentrierte Anspannung. Auf dem letztjährigen Dreamhack-Festival, der grössten LAN-Party der Welt, sind die Mitglieder des Counter-Strike-Teams so etwas wie die Paradies-Vögel. Kein Wunder: Sie sind locker zwei bis drei Mal so alt wie die restlichen Spieler hier. Normalerweise interessieren sich die alten Schweden eher für Golf oder Skilanglauf, nun aber spielen sie „Counter-Strike: Global Offensive“ – kurz CS:GO. Bei dem Taktik-Shooter treten zwei Teams gegeneinander an: Terroristen gegen Mitglieder einer Spezialeinheit. Ziel des Spiels ist es, die gegnerische Mannschaft durch Team-Work und strategisches Geschick von ihren vorher erteilten Aufträgen abzuhalten und so das Spiel für sich zu entscheiden – im Prinzip eine Abwandlung des klassischen „Räuber und Gendarm“-Spiels.

Über die Jahre hat sich „Counter-Strike“ zu einem der bekanntesten Taktik-Shooter überhaupt entwickelt und gehört heute zu den wichtigsten Titeln im professionellen eSports, dem wettkampfmässigen Spielen von Computer- und Videospielen. Die besten Spieler der Szene sind gefeierte Popstars mit stattlichem Einkommen. Und sie sind in ihren 20ern, trainieren täglich ihre Taktik und Reaktionsschnelligkeit. Davon sind die Silver Snipers weit entfernt. Ein PC-Hersteller hat die Senioren für Werbezwecke gecastet. Trainiert werden sie von Tommy Ingemarsson. In den 2000ern war der Schwede einer der besten Counter-Strike-Spieler der Welt. Immerhin: Auf ihrer Website kündigen die Silver Snipers aktuell eine „World Tour“ an und suchen potentielle Gegner. Auch wenn die ergrauten Spieler mehr Werbegag als eine ernst gemeinte eSports-Konkurrenz sind, stehen sie doch exemplarisch für einen Generationswechsel in der Gamer-Szene.

„Von Jung bis Alt – inzwischen schleicht, springt oder knobelt jede Generation gerne durch virtuelle Welten. Entgegen der landläufigen Meinung stellen aber nicht die Kinder und Jugendlichen die grösste Gruppe an Spielern in Deutschland. Mit einem Anteil von 25 Prozent sind stattdessen die Silver Gamer die grösste Nutzergruppe von digitalen Spielen“, erklärt game-Geschäftsführer Felix Falk. Rund neun Millionen Deutsche der Altersgruppe 50+ spielen Computer- und Videospiele.

Ein Grund für den Boom der Silver Gamer ist die demografische Entwicklung, die frühen Gaming-Pioniere sind mit dem Medium älter geworden. Hinzu kommt, dass Tablets und Smartphones längst in vielen Senioren-Haushalten angekommen sind. „Während Konsolen oder Gaming-PCs für viele ältere Spieler zu teuer oder kompliziert zu bedienen erscheinen, lassen sich Spiele-Apps leicht installieren und ausprobieren. Dadurch hat sich der Zugang zu Spielen deutlich erleichtert“, sagt Jan Smeddinck, Gaming-Forscher am International Computer Science Institute in Berkeley. Besonders beliebt in der Altersgruppe 50+ sind die digitalen Umsetzungen von analogen Spieleklassikern. Skat, Puzzle oder Kreuzwort-Rätsel stehen im App-Store genauso hoch im Kurs wie Sudoku oder Gedächtnistrainer. „Bei Ego-Shootern oder Sportsimulationen sind Senioren eher zurückhaltend. Hier wird eher die Lebenswelt der Jugendlichen angesprochen“, sagt Smeddinck. Ausserdem seien die Fähigkeiten wie Reaktionsschnelligkeit oder schnelle Entscheidungen gefragt. Dinge, die im Alter zunehmend schwerer fallen.

Das Interesse an Spielen bestätigt auch eine Studie der Stiftung Digitale Chancen, die die „Nutzung und den Nutzen des Internets im Alter“ untersuchte. Die Forscher befragten dabei 300 ältere Menschen in 30 Senioren-Einrichtungen in ganz Deutschland. Sie bekamen für acht Wochen ein Tablet-Leihgerät mit vorinstallierten Apps, darunter Spiele wie „Angry Birds“ oder „Mah-Jongg“. Ein interessantes Ergebnis: Nach E-Mails, Navigation und Fahrplänen landeten Spiele auf Platz vier der meistgenutzten Funktionen. Knapp die Hälfte aller Teilnehmer spielte regelmässig. „Die Frauen spielten eher Mah-Jongg oder lösten Kreuzworträtsel. Auch Candy Crush stand hoch im Kurs. Männer interessierten sich eher für Kartenspiele und probierten sogar Eishockey oder Fussball-Spiele aus“, berichtet Barbara Lippa. Allerdings zeigte sich auch, dass die Senioren bei der Entdeckung der digitalen (Spiele-)Welt nur bedingt auf die Unterstützung der Enkel und Kinder hoffen können. „Oft fehlt den Angehörigen die Zeit und Musse, die Funktionen von Smartphone und Tablet genau zu erklären“, sagt Lippa. Deshalb empfiehlt sie einen Ausbau von IT-Kursen für Senioren, dabei könnten auch Games eine wichtige Rolle spielen.

So organisierte die Stiftung Digitale Chancen auf dem Höhepunkt des „Pokémon GO“-Hypes eine Informationsveranstaltung für Senioren – mit grossem Erfolg. „Die Teilnehmer waren interessiert und froh über den Einblick in die Lebenswelt ihrer Enkel. Viele wollten im Anschluss das Spiel gleich selbst ausprobieren“, berichtet Lippa. Aus ihrer Sicht bieten interaktive Spiele grosses Potential für den Austausch zwischen Generationen. Einen Beitrag zu diesem Austausch leistet auch der YouTube-Kanal „Senioren Zocken“. Das Konzept: Regelmässig probieren zwei Gruppen von Seniorinnen und Senioren neue Videospiele aus. Man kann älteren Herren dabei zusehen, wie sie sich mit einer Virtual-Reality-Brille vor den Augen als Quarterback einer American-Football-Mannschaft versuchen oder wie betagte Damen als Gangster bei „Grand Theft Auto“ Los Angeles unsicher machen. Mit kindlicher Freude über die neuentdeckten Spielewelten. Auch die Zuschauer lieben die Senioren: Der Kanal hat mehr als 300.000 Abonnenten, die Kommentarspalten sind voller Lob für die Spieler. Und auch auf der letztjährigen gamescom gab es viel Applaus für die älteren Gamer – sie gaben eifrig Autogramme und posierten auf den Rollator gestützt für Selfies.

Doch Videospiele sorgen nicht nur für Abwechslung und Spass, sie besitzen auch therapeutisches Potential, insbesondere für Senioren. Wie das Kreuzworträtsel in der Zeitung oder regelmässige Skatrunden mit Freunden regen auch Videospiele unser Gehirn an. Das zeigen Studien des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Für ihre Untersuchung liessen die Forscher zuerst junge Erwachsene zwei Monate lang täglich 30 Minuten „Super Mario 64“ spielen. Die Wissenschaftler entdeckten bei den spielenden Probanden ein Wachstum in Hirnarealen, die für räumliches Denken, Erinnerungsbildung, feinmotorische Fähigkeiten und strategische Planung zuständig sind. Ähnliche Beobachtungen hatten bereits französische Forscher gemacht. Sie verglichen junge Ego-Shooter-Spieler mit Nicht-Spielern. Das Ergebnis: Die Gamer waren konzentrierter und konnten sich schneller entscheiden. Auch bei Senioren zeigten sich ähnlich positive Effekte.

So wurde am Berliner Max-Planck-Institut ein Spiel getestet, das die Selbstkontrolle von Senioren verbessern soll. Im zunehmenden Alter haben Menschen Probleme damit, Handlungen im letzten Moment „abzubrechen“. Gemeinsam mit Spielentwicklern der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin entwarfen die Forscher deshalb das Spiel „Schiff ahoi“. An einem virtuellen Schiffsbuffet müssen die Spieler möglichst schnell Speisen auf ihren Teller stapeln. Die Schwierigkeit: Immer wieder liegt Ungeniessbares wie Sonnenbrillen auf den Tischen. Um zu verhindern, dass auch sie auf dem Teller landen, müssen die Senioren schnell reagieren und das Stapeln unterbrechen. Acht Wochen lang spielten die Probanden täglich. Das Ergebnis: Die Gehirnareale im präfrontalen Kortex zeigten bei den Spielern ein deutliches Wachstum, auch die Selbstkontrolle verbesserte sich deutlich.

Kein Wunder also, dass nicht nur Hochschulen das Potential der sogenannten „Health Games“ erkannt haben, sondern auch immer mehr Spiele-Entwickler Games entwickeln, die den Krankheiten des Alters den Kampf ansagen. Zu den Pionieren zählt ohne Frage das Start-up RetroBrain aus Hamburg. Manouchehr Shamsrizi und seine Mitgründer haben eine Spielkonsole namens Memore entwickelt. Fachliche Unterstützung bekommen sie dabei von Medizinern und Demenzforschern. Microsoft und die Barmer GEK gehören zu den Investoren. Ihr Ansatz: Mithilfe von einfachen Spielen trainieren die Senioren Gleichgewicht, Feinmotorik oder Koordination. So steuern sie durch die Gewichtsverlagerung von einem Bein aufs andere ein Motorrad durch den Stadtverkehr. Beim Postbotenspiel müssen die Spieler ein Fahrrad lenken und gleichzeitig mit dem rechten und linken Arm Briefe verteilen. Gesteuert wird die auf der Xbox basierende Konsole nicht über Controller, sondern einzig über Gesten und Bewegungen. Aufgenommen werden die von einer Kinect-Kamera. Das erleichtert den Zugang für die Senioren. Zum Spielstart muss nur der Arm gehoben werden und schon geht es los.

Neu ist dieser Ansatz der therapeutischen Aktivierung nicht. Gleichgewichts- und Koordinationsübungen sind Teil eines jeden Bewegungskreises – einziger Unterschied: Bisher übernahmen das Training Ergo- und Physiotherapeuten und keine Spielkonsolen. „Wir sehen Memore nicht als Konkurrenz zu bestehenden Therapieangeboten und wollen auch keine Therapeuten ersetzen“, erklärt Manouchehr Shamsrizi. Es gehe vielmehr darum, die Demenz-Therapie sinnvoll zu ergänzen, indem Memore Behandlungslücken ausgleicht und die Senioren zusätzlich zur Bewegung motiviert.

Der Bedarf für solche Ideen ist gross. Allein in Deutschland gibt es schon heute rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Bis 2050 könnte ihre Zahl auf drei Millionen ansteigen. Ihre Betreuung wird damit zu einer immensen Herausforderung für die Gesellschaft. Umso wichtiger sind neue Präventionsansätze, die die Mobilität und das kognitive Leistungsvermögen im Alter fördern und erhalten. Schon heute fehlt in vielen Senioreneinrichtungen dem Pflegepersonal schlicht die Zeit, um Gleichgewichtsübungen oder Koordinationsaufgaben mit den Bewohnern durchzuführen. Auch die Physiotherapeuten haben nur in seltenen Fälle die Chance, über eine lange Zeit mit den Patienten zu arbeiten. Auch Jan Smeddinck von der Uni Bremen sieht deshalb grosses Potential für Health Games. „Die Spiele motivieren die Menschen nicht nur zu mehr Bewegung. Mit der entsprechenden Sensorik könnten sie auch Rückmeldungen über die richtige Bewegungsausführung geben und die Senioren korrigieren“, sagt er. Heute bekommen Patienten zwar „Hausaufgaben“ von ihren Therapeuten, doch wie gut und häufig die Übungen gemacht werden, kann niemand prüfen. Bis Krankenkassen eine Spielkonsole zur Sturzprävention und Mobilisierung im Alltag zu Verfügung stellen, wird trotz aller Vorteile noch einige Zeit vergehen.

Eine grosse Hürde ist: Die Entwicklung wirkungsvoller Health Games kostet viel Zeit und bedarf einer intensiven, wissenschaftlichen Begleitung. Immerhin sind die Ansprüche hoch: Die Spiele sollen den Senioren Spass machen und gleichzeitig sinnvoll eine Therapie unterstützen. Dieser Aufwand schreckt viele Entwickler mit guten Ideen ab. Dazu kommt die schwierige Finanzierung. Bisher kommt das Geld für solche aufwendigen Entwicklungen zumeist aus öffentlichen Fördertöpfen oder von privaten Investoren. Krankenkassen sind dagegen noch etwas zurückhaltend bei der Unterstützung, auch das Interesse von Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen oder Seniorentreffs wächst nur langsam. „Für die Umsetzung neuer Konzepte brauchen wir bessere Unterstützung der Gründer mit vielversprechenden Ideen. Die Anerkennung von Health Games durch Krankenkassen wäre ein erster wichtiger Schritt“, erklärt game-Geschäftsführer Felix Falk. Auch der Status als „Medizinprodukt“ ist noch ungeklärt. „Einerseits sichern verlässliche Studien zur Wirksamkeit der Health Games die Qualität der Anwendungen. Andererseits sind die Zulassungshürden für kleine Entwickler-Teams kaum zu überwinden“, so Falk weiter.

Die Retrobrain-Gründer haben sich auf diesen langen Weg gewagt. In Kooperationen mit Demenzforschern aus Berlin und Hamburg gibt es derzeit eine Wirksamkeitsstudie – das ist eine wichtige Grundlage für die teilweise Kostenübernahme durch Krankenkassen und Pflegeversicherungen. Bis dahin setzt das Hamburger Startup auf Senioreneinrichtungen, die bereit sind, die entsprechenden Kosten für ihre Bewohner selbst zu tragen.

Games sind demnach heute in allen Altersgruppen vertreten. Ob zur Unterhaltung oder für die Gesundheit: Mit ihren vielseitigen Inhalten und neuen Technologien sprechen Computer- und Videospiele Millionen Deutsche an. Insbesondere bei der Altersgruppe 50+ stehen digitale Spiele zunehmend hoch im Kurs. Denn neben dem Spiel-Spass ermöglichen sie den älteren Nutzern auch oftmals den einfachen und spielerischen Einstieg in die digitale Welt.




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